Leseprobe



    Alex Benzie, Das verbrannte Kleid. Roman. Stuttgart, München: DVA, 2000

    Über das Buch:

    Eine junge Frau kommt aus Irland nach Glasgow, um ein neues Leben anzufangen, auf der Flucht vor dem Vater und seiner Aggressivität. Doch lassen sich die Dämonen der Vergangenheit so einfach abschütteln? Mit ihrem Sohn Cameron will Catherine alles soviel besser machen, als sie selbst er erleben mußte. Verständnis, Zuwendung - er soll vorbereitet in sein Leben hineinwachsen. Was macht es da schon, daß es materiell nicht zum Besten bestellt ist? Die Liebe zu ihrem Sohn ist Catherine wichtiger als alles andere. Mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes jedoch scheint ihr selbst geschaffenes Idyll zu zerbrechen. Allein mit Cameron und for dem finanziellen Nichts, entdeckt Catherine eben die Züge tief in sich, wegen derer sie vor ihrem Vater geflohen ist. Alex Benzie erzählt die Geschichte einer Reise zu sich selbst. Catherine gibt nicht auf, und schließlich gelingt es ihr, Kräfte in sich zu entwickeln, von denen sie nie gewußt hat. Bereits für seinen Erstling wurde Alex Benzie hoch gelobt. "Das verbrannte Kleid" bestätigt seinen Rang unter den wichtigsten literarischen Stimmen seines Heimatlandes. "Durch seine Fähigkeit, eine ganz reale Welt zu beschreiben,d ie durch Blut und Leidenschaft zusammengehaltenw ird, verdient Benzie den Vergleich mit D.H. Lawrence." The Times "Ein Buch, das einem den Atem nimmt, vone inem Autor mit einer ganz eigenen Stimme - ein Meister." The Independent 

    Leseprobe: 

    Das erste, was Catherine sah, als sie die Tür zum Treppenabsatz öffnete, war die Glasscheibe in der Tür der Nachbarn gegenüber, mattiertes Glas mit einem Sprenkelmuster, das sie an die Auslage von Fischgeschäften erinnerte, die Tiere immer umgekehrt aneinandergereiht, Nase an Schwanz, Schwanz an Nase, als wären sie von vornherein so geschaffen, daß sie im Tod ordentlich zueinanderpaßten, der runde Bauch des einen in die Kehle des anderen geschmiegt. Es bewegte sich etwas hinter der Scheibe, der Umriß eines Gesichts zerstörte das Muster, blieb jedoch so verschwommen, daß Catherine die Züge nicht ausmachen und trotz der Silberkrone auf dem Kopf nicht erraten konnte, welcher der beiden Alten es war. Im offenen Hausflur roch es nach gebratenen Zwiebeln, dazu kroch eine schwere Schwade mit Fett- und Fleischgeruch von oben die Treppe herunter. Catherine hörte eine Tür des Krankenwagens zuschlagen, dem Geräusch nach zu schließen die Fahrertür. Sie lief zur Tür hinaus, die drei Stufen hinunter, die auf den vorderen Gartenweg führten, und eilte über den asphaltierten Weg zum Bordstein, an dem der Krankenwagen stand. Er sah genauso aus wie Camerons Spielzeugmodell, ein seltsam grinsender Kühler, eine hohe Stirn, die sich hinaufzog bis zum kastenförmigen Rumpf, weiß wie ein Arztkittel, dachte Catherine, viel zu hell für einen Leichenwagen. Zwei Männer waren ausgestiegen, einer von ihnen kam auf Catherine zu und fragte, Sie sind Frankies Frau? Er war größer als sie und ziemlich breit, daran gewöhnt, große Lasten zu heben, aber sie betrachtete seine Hände und sah, daß seine Finger spindeldünn und feingliedrig waren, wie die Finger der Ärzte im Krankenhaus, mit denen sie stundenlang um Francis Heimkehr gerungen hatte. Sein Gesicht war dick, nicht einfältig, aber wie sein restlicher Körper, mit Ausnahme der Hände, grobknochig und rund. Er lächelte leicht; er kannte den Wert eines Lächelns zur rechten Zeit, den richtigen Grad von Herzlichkeit, er machte das gut und professionell. Catherine stand auf dem Bürgersteig, die Arme um die eigene Taille gelegt, während er zum hinteren Ende des Krankenwagens ging. Sie spürte ein Ziehen im Magen, aber das konnten doch nicht die Nerven sein, sie hatte Francis in all den Wochen, die er im Royal verbracht hatte, jeden Tag gesehen; sie spürte die Blicke, die auf ihr ruhten, fühlte sie wie Mottenflügel auf ihrer Haut, und sie drehte sich um; Cameron stand am Tor und spähte hinter dem Pfosten hervor, genau wie am Weihnachtsmorgen, wenn er seine Geschenke erst aus der Entfernung betrachtete, ehe er darauf zuging, als könnten ihnen Beine wachsen und sie könnten vor seinen Augen davonlaufen. Der Krankenwagenfahrer war jetzt hinter ihr, sie drehte sich zu ihm um. Ich nenne ihn Francis, sagte sie und versuchte, dabei möglichst ungekünstelt zu klingen. Er stützte sich auf die Chromgriffe und wagte sogar ein kleines Lachen. Bei seinem Sonntagsnamen, was? Ganz wie Sie wollen, Missis, ich hatte ja keine Ahnung, daß es Ihnen wichtig ist. Aber keine Sorge, wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht, da werden wir ihn auch sicher wieder nach Hause bringen. Catherine runzelte die Stirn, erinnerte sich plötzlich wieder an die beiden. Sie haben ihn auch abgeholt? Genau, Missis, die gleichen Fahrer, sagte er, zog die Griffe herunter und entriegelte die Türen mit einer Wucht, die den Wagen erbeben ließ; Catherine nahm sofort den Geruch nach Desinfektionsmittel wahr, der durch die Türen nach draußen drang, als hätte der Krankenwagen während der gesamten Fahrt die Krankenhausluft angehalten und erst jetzt ausgeatmet. Der andere Mann sprang auf das Trittbrett, während der erste, der die Türen geöffnet hatte, mit etwas hantierte, das Catherines Blick verborgen blieb, in ihren Ohren aber so klang, als würde er eine Feile über ein Holzstück ziehen. Dann sah sie, wie die beiden Männer sich zum Heben anspannten, sich auf das Balancieren eines großen Gewichts einstellten, und der Fahrer, mit dem sie gesprochen hatte, sagte Na, Frankie, sind wir soweit? Eins, zwei, drei - hopp! Catherine bekam Francis erst richtig zu sehen, als der Rollstuhl schon auf dem Asphalt stand und der dickere Fahrer zur Seite trat. Sie hatte gedacht, sie würde glücklicher sein, erleichterter, ihn wiederzusehen, doch in dem Rollstuhl schien so wenig von ihm übrig zu sein, nicht mehr als ein kleines Bündel Reisig, und sie fragte sich, warum sie dafür gekämpft hatte, ihn zurückzubekommen, um seinetwillen oder um sich gegen Dr. Haldane durchzusetzen, seinen distanzierten Blick und die Art, sie wie einen von Dutzenden von Briefen in seiner Post zu behandeln, Madam, was könnten Sie zu Hause schon für ihn tun, was wir hier nicht tausendmal besser machen können? und das auch nur, weil sie ihm den Flur hinunter nachgelaufen war und ihn gezwungen hatte, ihr zu antworten, weil sie ihn bis ins Arztzimmer und weiß Gott wohin noch verfolgt hätte, wenn er sich nicht endlich mit ihr abgegeben hätte. Erst als sie Francis im Rollstuhl neben dem Bordstein sah, kamen ihr Zweifel, aber sie redete sich ein, daß sie glücklich war, und das mußte sie auch, um sich davon abzuhalten, zu ihm zu laufen und ihn in beide Arme zu nehmen vor lauter Angst, die dünnen Stöckchen, die seine Knochen waren, könnten jeden Augenblick zerbrechen. Außerdem war es viel leichter gewesen, ihn in seinem Bett im Krankenhaus zu sehen, sie hatte gewußt, daß er krank war, und wenn man die hallenden Flure mit dem grellen Licht, dem Geruch nach Arznei und Desinfektionsmittel hinuntergeht, erwartet man nichts anderes, als von Krankheit gezeichnete Menschen zu sehen. Im Sonnenlicht jedoch wirkte er völlig verändert; sein Schädelknochen trat hervor, die Augen schimmerten in dunklen Höhlen, und unter den Wangenknochen war das Fleisch wie von einer allmählichen Erosion vollständig abgetragen; vor allem sein Lächeln aber konnte sie kaum ertragen, weil sie den Unterschied zwischen ihm und dem Tod nicht mehr sah, es lag keine Handbreit mehr dazwischen. Es kostete sie Mühe, ihrerseits mit einem Lächeln zu antworten, als einer der Pfleger den Stuhl umdrehte und ihn über die Bordsteinkante auf den Bürgersteig hob; Francis trug das gleiche wie am Tag seiner Einweisung, ein weißes Hemd, das an ihm flatterte, als habe man es zum Lüften über einen Wäscheständer gehängt, und mattblaue Kordsamthosen, deren Gürtel wie ein steifer Kinderreifen um seine Taille lag und ihm ebenso wenig zu passen schien wie seine eigene Haut. Der Wind blähte den Stoff wie ein Segel, und einen kurzen Moment lang sah er aus wie aufgeblasen, was Catherine um so schmerzlicher vor Augen führte, daß er seine eigenen Kleider kaum noch füllte; auf der Station hatte sie ihn nur von der Brust an aufwärts gesehen. Sie sah nach dem zweiten Pfleger, der eine zerbeulte Sauerstofflasche und eine Atemmaske aus dem hinteren Teil des Wagens nahm; hinter ihm die andere Straßenseite. Zwei Frauen standen mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Rasen und sprachen mit gedämpften Stimmen aufeinander ein; sie trugen Kittel und fleckige alte Wollblusen in irdenen Farben, unter den am Kinn gebundenen Kopftüchern waren Lockenwickler zu sehen, und beide hatten rote, vom vielen Staub jedoch schon ganz dunkel gewordene Pantoffeln an. Ab und zu deutete die eine mit dem Kopf zu Catherine und sprach dann weiter, dann war die andere dran, und einen taktlosen Augenblick lang schauten sie beide herüber. Sie waren nicht die einzigen; als Catherine um den Krankenwagen herumhing, sah sie eine ganze Kette von Neugierigen die Wege und offenen Hausflure säumen, sah Fenster hochgeschoben, die bis dahin noch nie jemand geöffnet hatte, und Gardinen, die sich an den Öffnungen der dunklen Fassade gierig die Lippen leckten. Catherine wandte sich an die beiden Kopftuchfrauen, sprach aber so laut, daß es an allen Türen und Fenstern zu hören war. Mein Mann hat Lungenkrebs und wird bald sterben. Jetzt wissen Sie Bescheid. Reicht das, oder wollen Sie auch noch wissen, wann das nächste Bulletin herausgegeben wird? Die beiden Klatschbasen zogen sich beschämt in ihr Haus zurück, hatten auf ihrer Flucht in den Schatten des offenen Hausflurs aber immerhin den Anstand, die Köpfe zu senken. Catherine schaute die Straße hinunter, sah, wie die Glieder der Kette sich allmählich auflösten. Sie wollte sich gerade wieder zum Bürgersteig umdrehen, als eine Stimme von oben kam, aus der Fassade schallte, wie die Stimme des Steines selbst, ebenso verwittert jedenfalls, die Stimme einer alten Frau. Hau doch ab und fick dich ins Knie, du irische Schlampe, wen kümmert der Scheiß? Catherine fuhr herum, und sie war nicht die einzige, deren Augen die Fensterreihen in Beschuß nahmen, sie nach einer Bewegung absuchten. Wer auch immer sie gewesen sein mochte, die Alte würde dafür büßen, klingelnde Kinder würden sie auf ihren arthritischen Beinen vergeblich zur Haustür locken und mit Kreide "Protestantensau" über ihr Namensschild schreiben. Catherine hatte wenig Mitleid mit ihr, sie wußte, was für Leute in der Siedlung wohnten, aber sie sagte laut, Sie haben doch keine Ahnung, und Ihre Manieren haben Sie in der Gosse gelernt, sonst würden sie solche Wörter in Gegenwart von Kindern nicht benutzen. Ich hoffe, daß Sie nie das gleiche durchzumachen brauchen wie mein Mann, dann würde es Ihnen nämlich äußerst leid tun, noch mehr leid als jetzt. Sie fuhr mit den Fingern durch ihr Haar, strich es aus dem Gesicht, so daß es nach hinten über die Schultern fiel, drehte sich um und trat auf den Bürgersteig, neben den Krankenwagen, zu dem Mann, der hinter dem Rollstuhl stand; sie hielt den Kopf hoch erhoben, groß und steif wie die Königin in einem Bilderbuch. Mit verzerrter Miene sah der andere Pfleger sie an, angeekelt wie von einem widerlichen Gestank, und er schüttelte den Kopf. Hören Sie nicht auf sie, Missis. Sie haben Ihren Mann zurück, das ist das Allerwichtigste. Diese betrunkene alte Trutschel hat doch keinen Funken Anstand in den Knochen. Catherine lächelte und nickte ihm dankbar zu. Sie stand neben dem Rollstuhl und sah auf Francis hinunter, oder auf das, was die Krankheit noch von ihm übriggelassen hatte; sie fühlte sich stärker, stark genug, um sich zu ihm zu beugen, ihn auf die hohle Wange zu küssen und in sein Ohr zu raunen, Du bist jetzt bei mir, und ich werde gut für dich sorgen, und sie war sogar stark genug, das Lächeln zu ertragen, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, das Grinsen des Totenschädels unter dem verlorenen Gesicht ihres Mannes. Der von Hecke und Zaun begrenzte Weg war so schmal, daß sie hintereinander gehen mußten, der erste Pfleger schob den Rollstuhl vorsichtig über den holprigen Plattenweg, danach kam Catherine mit kurzen Schritten, gefolgt von dem zweiten Pfleger, der die Flasche in der einen und die Maske in der andern Hand trug. Der erste Pfleger hatte einen so breiten Rücken, daß Catherine sich zur Seite beugen mußte, um Cameron zu sehen; er stand reglos am Hauseingang, halb hinter dem Pfosten versteckt, als befürchtete er, ohne dessen Schutz von der großen Öffnung verschluckt zu werden. Es war sein Gesichtsausdruck, der ihr Sorgen machte; er sah aus, als würde man ihn zwingen, einem Fremden die Hand zu geben, einem freundlichen Onkel mit Süßigkeiten in der Jackentasche; er starrte nur kurz in die ausgehöhlten Augen seines Vaters und blickte dann rasch zur Seite, vor Angst, dachte Catherine, die es ihm kaum verübeln konnte und sich doch vornahm, später mit ihm darüber zu sprechen und ihn daran zu erinnern, wer diese Guy Fawkes-Figur im Rollstuhl war und was ihr zustand. Bis zu den drei Stufen, die dort hinaufführten, wo Cameron stand, hatten sie Francis ohne Probleme gebracht. Der Pfleger drehte den Rollstuhl rückwärts und sah sich nach seinem Kollegen um, doch Catherine sagte, Kein Problem, ich mach das schon, bückte sich und packte den Stuhl da, wo die Vorderräder am Rahmen befestigt waren, direkt unter den als Fußstützen herausschwenkbaren Platten; der Pfleger ging rückwärts zwei Stufen hoch und zählte wieder, eins, zwei, drei - hopp! Catherine stemmte beide Beine fest in den Boden und wappnete sich für ein schweres Gewicht, aber es war nicht viel mehr als der Stuhl selbst zu heben, so als hätte Francis kein Mark, sondern bloß Luft in den Knochen, kaum schwerer als die mit Stoff bespannten Chromstangen, die den Rollstuhl zusammenhielten. Vorsichtig ließen sie den Stuhl auf den Treppenabsatz sinken, und Catherine paßte sich ganz den Bewegungen des Pflegers an, damit Francis nicht mit einem Ruck wieder zu stehen kam. Cameron hatte sich inzwischen auf der Schwelle zu ihrer Wohnung postiert; und während sie ihm zulächelte, dachte Catherine, er ist völlig stumpf und verschlossen, von ihnen wie durch eine Fensterscheibe getrennt, vom Drücken gegen das Glas weiß und blutleer geworden. Ohne das Licht von draußen wirkten der offene Hausflur und die Wohnungstür kühl und einheitlich grau; und auch Camerons Gesicht hatte die Farbe des Steins angenommen, dachte Catherine, seine Augen nicht auf seinen Vater, sondern starr auf den Stuhl ausgerichtet. Er trat zur Seite, ließ sie durch den engen Flur ins Wohnzimmer gehen, und Catherine fragte sich, was sich hinter seinem Stummsein verbarg. Die beiden Pfleger schoben den Rollstuhl zu der Stelle, die Catherine ihnen gezeigt hatte, neben Francis' Lieblingsplatz vor dem Kamin; zu beiden Seiten des Stuhles stehend, hoben sie ihn heraus und stellten ihn vorsichtig auf den Boden. In dem geschlossenen Zimmer, ohne ablenkende Geräusche, hörte Catherine, wie Francis nach Atem rang. Das Gewicht, das den beiden Krankenpflegern nicht die geringste Mühe machte, war für ihn eine felsenschwere Last, seine Beine zitterten von der Anstrengung, auf die Pfleger gestützt ein paar wenige Schritte zu gehen. Behutsam führten ihn die Männer zu seinem Sessel, achteten darauf, daß ihre Beine sich nicht mit seinen verhakten, und der Größere von ihnen, der den Stuhl hereingeschoben hatte, sagte, Wie wär's mit einem kleinen Tänzchen, Frankie? Gut so, noch ein kleines Stückchen nach rechts, ja, gleich haben wir's geschafft, bis sie die richtige Stellung gefunden hatten und ihn auf die Kissen hinunterließen; das Holzgestell knarrte wie üblich, wenn sich jemand auf den Sessel setzte, aber viel leiser als sonst, bemerkte Catherine, ein ganz kurzes Knarren, das war's. Die beiden Männer wollten wissen, ob es Francis in dem Sessel auch bequem war. Alles in Ordnung, Frankie? fragte der Dicke; der andere dagegen war dünn. Catherine sah ihn zum ersten Mal bewußt, er wirkte empfindsam und sagte nicht viel, sein Partner redete für beide genug, aber es hatte den Anschein, als berührte ihn das, was er sah, zu tief, um in ihm das Bedürfnis nach sprachlichem Ausdruck zu wecken. Francis nickte; bedankte sich bei dem Dicken, nickte dem Dünnen zu. Im gleichen Moment verkrampfte sich etwas in ihm, ließ ihn in lautes Husten ausbrechen, man hörte die Flüssigkeit, die in ihm gurgelte, und er langte in seine Hemdtasche nach einem Taschentuch, um die Klumpen hineinzuspucken. Es erinnerte Catherine an die Zeit, in der sein jahrelanger, von ihm stets heruntergespielter Husten von Blut durchzogenen Schleim zum Vorschein brachte und Catherine ihm tage- und nächtelang in den Ohren lag, wenn du nicht allein gehen willst, dann gehe ich mit zum Arzt, und keinen Einwand gelten ließ, scheiß auf den Verdienstausfall, Francis, morgen gehen wir zum Arzt und damit fertig. Schließlich mußten die Pfleger weiter. Der Dicke griff Francis am Arm und sagte, Paß gut auf dich auf, Frankie, mein Freund, du bist jetzt bei deiner Familie, und das ist für dich das Allerbeste. Er beugte sich über den Rollstuhl und klappte ihn zu einem schmalen Paket aus Stoff und Stangen zusammen. Der Dünne deutete auf die Sauerstofflasche, erklärte Catherine, wie sie funktionierte, wie man den Absperrhahn drehte, und schlug ihr vor, die Flasche tagsüber neben den Sessel und nachts neben das Bett zu stellen; sie nickte, überrascht, ihn sprechen zu hören, seine Stimme klang in ihren Ohren ebenso hoch wie ihre eigene, wie feines Vogelzwitschern. Über die Schulter schaute sie zurück zu Cameron, der in der anderen Ecke des Zimmers stand; er sah zu, wie der dünne Mann die Flasche aufstellte und Francis die Maske gab. Eine letzte Warnung, die Flasche nicht zu dicht ans offene Feuer kommen zu lassen und häufig zu prüfen, ob sie auch nicht zu warm geworden sei; zum Schluß eine umständliche Erklärung, die sie nicht mehr aufnehmen konnte, etwas über Hitze und Druck, und dann, sie wollen ja nicht, daß Ihr Haus in die Luft geht, und Catherine schüttelte höflich lächelnd den Kopf. Sie brachte die beiden zur Wohnungstür; kurz davor blieb der Dicke stehen und ließ den zusammengeklappten Stuhl sanft auf den Teppich gleiten. Er langte in seine Tasche und zog einen Gegenstand heraus, den Catherine sich nicht anschauen mochte, zumindest nicht gleich. Leise, damit es im Wohnzimmer nicht zu hören war, sagte er, Das muß ich ihnen auch noch geben. Passen Sie nur auf, daß der Kleine es nicht in die Finger bekommt. Catherine blickte auf seine offene Hand, seine seltsam feingliedrigen Finger, eine Spritze und Nadeln in kleinen Plastikhüllen. Catherine runzelte die Stirn; nur durch einen Nebel sah sie, was er ihr entgegenstreckte, es hätte alles sein können, eine Tüte Süßigkeiten, eine Glasflasche, irgend etwas Unschuldiges. Ihr wurde klar, daß er darauf wartete, daß sie ihm die Sachen abnahm, und sie streckte die Arme aus, ohne nachzudenken, sammelte alles in einer Hand, die Nadeln knisterten in ihrem Kokon, und die Glaswand der Spritze drückte kühl gegen ihren Daumenballen. Der Pfleger griff noch einmal in die gleiche Tasche und zog eine kleine Glasampulle hervor, hielt sie so, daß Catherine sie sehen konnte, holte tief Luft und sagte, Er wird davor starke Schmerzen haben, Sie wissen schon, was ich meine. Das wird ihm helfen, die Schmerzen zu ertragen. Sie nahm ihm die Ampulle ab, hielt sie in der anderen Hand, wie Gewichte in der zweiten Waagschale. Sie starrte abwechselnd auf den Inhalt der einen und der anderen Hand; sie fühlte sich völlig ausgehöhlt, von jeder Trauer befreit. Sie sagte, Und wann soll ich damit anfangen? Der Mann zuckte mit den Schultern. Schmerzen hat er jetzt schon, Missis. Wenn er anfängt, darüber zu klagen, ist die Zeit für die Spritzen gekommen. Ehe er ging, erklärte er ihr noch die Bedeutung der roten Striche auf dem Glasröhrchen, zeigte ihr, bis zu welchem Eichstrich sie die Spritze füllen müsse, um Francis die Schmerzen zu nehmen, und wie sie seinen Unterarm zu kneten habe, um eine Vene zu finden. Das wird allerdings das geringste Problem sein, schätze ich, sagte er und bereute es im gleichen Augenblick; aber sie wollte mehr wissen, und er wies sie rasch ein; kochen Sie die Nadeln vor jedem Gebrauch aus, nehmen Sie jedesmal eine frische Nadel, niemals die gleiche, drücken Sie nicht zu fest, am besten üben Sie mit einer Apfelsine und einer wassergefüllten Spritze, und vergessen Sie nicht, die Spritze nach jedem Gebrauch auszukochen. Als sie diesmal nickte, hatte sie tatsächlich alles verstanden, seine Worte standen ihr so klar vor Augen, als hätte sie Punkt für Punkt alles aufgeschrieben; zuletzt sagte er, Tja, das war's, Missis, können Sie das alles behalten? Catherine nickte ein letztes Mal zur Bekräftigung. Rufen Sie im Krankenhaus an, falls Sie etwas vergessen haben. Und merken Sie sich diesen Strich hier. Der dicke Mann beugte sich über sie und legte den Zeigefinger auf einen der oberen Eichstriche. Das ist die tödliche Dosis. Sie wissen, was ich meine? Er sah sie an und schwieg einen Augenblick, als wäre in dem starren, für Catherine undurchdringlichen Blick eine weitere Mitteilung verborgen. Sie nickte; er trat zurück, bückte sich nach dem Rollstuhl, nahm ihn unter den Arm und streckte sich wieder. Catherine dankte den Pflegern für ihre Hilfe, aber das war den beiden sichtlich unangenehm, dafür werden wir schließlich bezahlt, Missis, und dann waren sie fort, der Dünne hielt die Tür auf, weil Catherine keine Hand frei hatte, und schloß sie auch hinter sich. Einen Augenblick lang wog Catherine die Spritze, die Nadeln und die Ampulle in der Hand, ein unerträgliches Gewicht, schwerer als alles, was sie je getragen hatte, außer ihrem Gepäck auf der Fähre übers Meer vielleicht, dem Gewicht ihres gesamten bisherigen Lebens. Dann beherrschte sie sich und sah nach links zum Vorsprung im Flur, suchte die Tür zum Badezimmer. Sie trat vor das Medizinschränkchen, das über dem Waschbecken hing und ihr Gesicht in zwei Hälften unterteilte; öffnete eine der Türen mit der Hand, in der sie die Ampulle hielt, weil sie mit dieser etwas mehr Bewegungsfreiheit hatte. Neben eine Packung Watte und einen Topf mit Vaseline schob sie die Spritze und die Nadeln, in das Fach darüber stellte sie die Ampulle zwischen eine Flasche Liniment und eine Packung Aspirin; dann schloß sie die Tür, ließ alles zurück, um es zumindest vorübergehend zu vergessen. Ein letztes Mal betrachtete Catherine ihr zweigeteiltes Gesicht im Spiegel; es war stärker, als sie es sich je hätte erhoffen können, kein Riß, kein Kratzer war zu erkennen. Sie schöpfte tief Luft, ein Luxus, wenn sie an Francis im Wohnzimmer dachte, und wappnete sich innerlich, um Cameron mit seinem Vater bekanntzumachen. Catherine sah Francis zuerst von hinten; die Kontur seines braunen Haars folgte der Wölbung seines Ohrs, den jetzt so viel spitzer gewordenen Winkeln seiner Gesichtszüge; beim Quietschen der Tür drehte er sich zu ihr um, lächelte zögernd, ohne seine Zähne zu zeigen, die Lippen über den Kiefer gemalt. Ihr Blick fiel auf Cameron, der in der Ecke des Zimmers stand, die Arme vor der Brust verschränkt; er sieht viel erwachsener aus, dachte sie, aber seine Augen waren fest auf den Teppich geheftet, starrten das Muster aus gefallenen Blättern in bronzenen, goldenen und roten Herbstfarben an. Sie wußte, er hatte Angst vor dem Fremden, der da im Sessel seines Vaters saß, und als sie näherkam, sah sie, daß Francis weiter lächelte, die Augen seinem Lächeln jedoch eine andere Bedeutung gaben, seinem Jungen verziehen, denn auch er hatte sich heute im Spiegel gesehen, aber damit würde sich Catherine nicht zufriedengeben, nicht nach all dem, was sie Cameron am Abend zuvor gesagt hatte. Und dann noch Francis' Art zu atmen, wie er die Brust nur immer so weit hob, um gerade genug Luft hereinzulassen, sie wieder ausstieß wie durch Orgelpfeifen, wieviel Mühe es ihn kostete, etwas zu tun, was man nie beachtete, bis es einem plötzlich genommen war. Sie konnte verstehen, daß all dies einem Kind Angst machte, aber sie war fest entschlossen, denn sie hatte Francis' Heimkehr in ihrem Kopf unzählige Mal durchgespielt und es sich so nicht vorgestellt, deshalb ging sie zu Cameron und stellte sich neben ihn, betrachtete von oben das Haar, das sie am Morgen mit einem Kamm ordentlich gescheitelt hatte. Cameron, sagte sie, dein Dad ist nach Hause gekommen. Geh zu ihm und sag ihm Guten Tag. Sie legte beide Hände auf seine Schultern und schob ihn sanft aus der Ecke, in die er sich verkrochen hatte; erinnerte sich an das alte Pferd ihres Vaters auf der anderen Seite des Wassers, daran, wie es sich gesträubt hatte, wenn sie je versucht hatte, es aus seinem Stall zu locken, wie es die Hufen in die Erde gestemmt und sich keinen Zentimeter fortbewegt hatte. Sie spürte, wie Cameron sich versteifte, wie er gegen ihre Vorwärtsbewegung zurück nach hinten drückte, während sie ihn zum Sessel vor dem Kamin bugsierte; er wollte flüchten, blieb aber stehen, als sie ihren Griff verstärkte, und obgleich er äußerlich ruhig wirkte, spürte sie ihn innerlich beben, als wäre er, sobald sie ihn nicht mehr festhielte, sofort über alle Berge. Sie wußte, er starrte auf den Teppich, auf die Beine des Sessels, und plötzlich fühlte sie sich so enttäuscht, daß sie am liebsten seinen Kopf festgehalten und ihn gezwungen hätte, sich das einzige im Zimmer anzuschauen, das für sie alle jetzt überhaupt noch wichtig war, aber sie beherrschte sich und wartete, bis er von selbst den Kopf hob, durch die Linsen seiner eigenen Augen schaute und damit etwas riskierte, das fast so innig wie eine Berührung war. Francis konnte sich in seinem Sitz kaum aufrichten. Er nahm einen weiteren Atemzug. Fast gelang es den unter den weit vorstehenden Brauen erstaunlich hellen Augen, seinen Sohn zum bedingungslosen Hinschauen zu bewegen. Endlich hatte er genug Luft zum Sprechen und sagte, Ziemlich brutale Diät, auf die sie mich da gesetzt haben, was, kleiner Mann? Mit einem Ruck entwand Cameron sich Catherines Händen und lief aus dem Zimmer, als hätte ihn der Teufel verjagt. Sein ausgemergelter, vom Tode gezeichneter Vater. Catherine dachte daran, wie sehr sie selbst schockiert gewesen war, als sie ihn im Rollstuhl neben dem Krankenwagen gesehen hatte, so anders als in seinem Krankenbett. Vielleicht war es auch die Stimme gewesen, der jede Kraft und Tiefe fehlte. Sie sah ihm nach, wie er durch die Tür verschwand, hörte seine schweren Schritte auf dem Teppich davoneilen, schneller als sonst, wenn er nur in sein Zimmer lief, um seinen Krankenwagen zu holen; sie hörte, wie sich die Tür zu seinem Zimmer schloß, unter anderen Umständen hätte sie darüber gelacht, wie leise er sie hinter sich zuzog, seiner Mutter sogar jetzt noch gehorchte, nur ungezogene Kinder schlagen mit Türen, Cameron. Als sie sich wieder umdrehte, traf sie Francis' Blick; er schüttelte langsam den Kopf, nahm einen seiner mühsamen Atemzüge, formte die Worte innerlich, ehe er sie aussprach. Ich weiß, daß ich wie ein Schreckgespenst aussehe, Kate. Catherine hatte nichts dagegenzusetzen. Sie stand neben ihm wie eine Versagerin; der Messingrahmen ihres Hochzeitsfotos blinkte im Licht, das durch das Fenster kam. Meinst du, für ein Schreckgespenst hätte ich mich schön gemacht? Francis hob die Hand, um sich zu entschuldigen; ein weiterer Hustenanfall ergriff von ihm Besitz, kam von ganz unten in seiner Brust, und endete erst damit, daß er das Taschentuch aus seiner Hemdtasche zog und hinter vorgehaltener Hand hineinspuckte. Als er das Tuch zusammengefaltet in die Tasche gesteckt hatte, sagte Catherine, Das war nicht richtig von ihm. Ich habe ihm erklärt, daß es dir nicht gut geht. Nicht gut geht es jemandem, der eine Erkältung hat, Kate. Ich werde zu ihm gehen und mit ihm reden, sagte sie und legte eine Hand auf Francis' Schulter, spürte den Knochen unter seinem losen Hemd. Als sie in sein Zimmer trat, lag Cameron auf seinem Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben; das Licht war gedämpft, aber auf dem Fußboden konnte Catherine die Stadt aus Pappe erkennen, die Cameron sich aus den Schachteln seiner Modellautos gebastelt hatte, von Klebstoff zusammengehaltene Mietskasernen, mit schrägen Pappdächern verzierte Einfamilienhäuser, nebeneinander auf Bürgersteige aus steifem Papier geklebt. Sein Krankenwagen parkte vor einem der Häuser, und sie fragte sich, ob er Dads Heimkehr nachgespielt oder den Wagen schon vorher dort hingestellt hatte, als er ihn auf ihre Bitte hin zurückgebracht hatte. Sie setzte sich auf die Bettkante, machte eine Kuhle, auf die er zurollte; sie kämmte sein Haar mit den Fingern, streichelte ihn wie eine Katze, zu wessen Beruhigung, hätte sie selbst nicht sagen können. Er schien nicht zu weinen. Sie legte soviel Mitgefühl wie möglich in ihre Stimme, als sie leise und eindringlich zu sprechen begann. Er ist dein Dad, Cameron. Ich habe dir gesagt, daß er anders aussieht. Was ist los mit dir? Sie wartete darauf, daß er es ihr sagte, auch wenn sie nicht wußte, was auf sie zukam. Sein Körper fühlte sich völlig steif an, wie aus Draht, mit Seilen verschnürt. Seine ersten Worte wurden vom Bettzeug verschluckt, als hätte er Angst, den Kopf zu heben, für den Fall, daß der sterbende Mann aus Holz und Stroh an ihrer Stelle saß. Sie bat ihn, es zu wiederholen; so gut er das in der Bauchlage konnte, hob er den Kopf und fragte, Warum sieht er so aus? In letzter Zeit stellte er nur noch Fragen, warum ist das so, Mum, wieso muß das so sein; Catherine war schon in die Bibliothek gegangen, hatte sich Bücher ausgeliehen, um ihm richtig antworten zu können, um ihn und seine Wißbegier nicht abzutun, wie ihr Vater es immer getan hatte, indem er sie auf den lieben Gott verwies. Sie erklärte ihm, das Aussehen käme von seiner Krankheit, sie mache alle Menschen zu dünnen, klapprigen Vogelscheuchen, nehme ihnen den Atem, bereite ihnen schreckliche Schmerzen, viel schlimmer als Zahnschmerzen, weil sie tief im Körper steckten und nicht mit einer Zange herausgezogen werden konnten, und die noch schlimmer würden, ehe es (hier beschloß sie, ein wenig abzumildern) dem Ende zuging. Cameron lauschte aufmerksam, so aufmerksam wie damals, als sie ihm erklärt hatte, was sie und Francis zusammen im Bett getan hatten; sie strich ihm das Haar aus dem Gesicht, um in seinen Augen lesen zu können, ob er sie verstanden hatte, er nickte und schob die Decke hin und her, ordnete sie zu kleinen Falten. Als sie fertig war, sagte er, Ich kann nichts dagegen tun, Mum, ich habe schreckliche Angst, ihn anzusehen, und Catherine verwuschelte sein Haar, das sie so sorgfältig in Form gelegt hatte, lächelte und sagte, Was ist los mit dir, Cameron? Bist du ein Vogel, der sich vom Anblick einer Vogelscheuche in die Flucht schlagen läßt? Sie freute sich, daß er wenigstens lächelte; jetzt brauchte sie nur noch so tun, als wäre ihr eigenes Lächeln ehrlich gemeint, während sie sich insgeheim fragte, ob es nicht besser wäre, Francis eine volle Spritze zu geben und damit für alle dem Leiden ein Ende zu setzen. Sie hatte es immer schon seltsam gefunden, daß man, wenn man neben jemandem im Bett lag, jeden Maßstab verlor, daß die Dinge in der Dunkelheit plötzlich so groß wurden wie die ganze Welt, einen anzogen wie die reine Schwerkraft und nicht mehr locker ließen. Selbst in seinem Zustand schien er sie dazu zu bringen, sich auf ihrer Seite des Bettes umzudrehen und ihn anzuschauen. Ohne Tageslicht erinnerte er sie mehr den je an einen verwitterten Stein, und am liebsten hätte sie sich die eigene Haut in Fetzen abgezogen und ihn damit geflickt. Vor einer Weile hatte er aus der Flasche geatmet, die sie neben seine Seite des Bettes gestellt hatte, hatte die Maske so über sein Gesicht gelegt, daß nur noch seine Augen zu sehen waren, die Augen eines Träumers, ein Schandfleck für die ganze Familie, wie seine Mutter zu sagen pflegte; was diese Augen jetzt jedoch berauschte, war die Reinheit des Sauerstoffs, viel mehr Sauerstoff, als ein einzelner Lungenflügel überhaupt aufnehmen konnte. Vor dem Zubettgehen hatte sie Francis ausgezogen, hatte sein Hemd aufgeknöpft, die lange Narbe gesehen und gedacht, er besteht also doch noch aus Fleisch und Blut; eine gekrümmte Wunde, ein roter Strich, zu beiden Seiten die Punkte der Naht, wo sie ihn aufgemacht und sein Brustbein gebrochen hatten, um an die vom Krebs zerfressene Lunge heranzukommen, und in dem Augenblick wünschte Catherine, sie wäre dagewesen, hätte ihn wie eine Mutter schützen und die Verletzung lindern können, während er schlief. Sie dachte daran, wie sie ihn in ihrer Hochzeitsnacht hatte atmen hören; wie er ausgesehen hatte, als alle anderen längst gegangen waren, nachdem Michael ihr seinen Kuß gegeben hatte und sie in das Hotelzimmer getreten war. Francis stand vor dem über dem Handwaschbecken angebrachten Spiegel, wußte nicht, daß sie ihn sah, schwankte zwischen dem Blick zur Tür und dem eigenen Spiegelbild; sein Anzug war eng, ein dicker Krawattenknoten verschnürte seinen Hals, seine Hände hingen nutzlos herunter wie nasse Blätter. Seine Stimme war dünn und leise, als er fragte, Was haben wir da gerade getan, Kate? aber sie wollte nichts davon hören, keinen Anflug von Reue gelten lassen, falls wirklich Reue dahintersteckte; sie trug noch ihr Hochzeitskleid, hatte nur die Schleppe beim ersten Betreten des Zimmers vor einigen Stunden über den einzigen Stuhl gelegt; sie streifte die perlmuttglänzenden Stöckelschuhe ab, schob sie zur Seite, ging auf Strümpfen über den grasdicken Teppich auf Francis zu und antwortete ganz gelassen, wir haben ehrbare Leute aus uns gemacht, mehr nicht. Das Kleid bauschte sich mit jedem ihrer Schritte rund um das Bett höher auf, und als sie endlich vor ihm stand, nahm sie seine beiden Hände und küßte ihn kurz auf die Lippen; sein steifer Rücken gab nach, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Sie ließ seine Hände los, wandte ihm den Rücken zu und senkte den Kopf so tief, daß sich ihr schwarzes Haar wie ein Vorhang über den perlenförmigen Knöpfen hob; als nichts geschah, fragte sie, Was ist los, Francis, hast du so schnell vergessen, wie das geht, oder wartest du auf die Gebrauchsanweisung? Sie spürte sein Lachen auf ihrem Haar, den Lufthauch, der es einen Moment lang erzittern ließ, sehr witzig, Kate, aber sein Tonfall war leicht, und er teilte ihr Haar in zwei dicke Strähnen, um besser sehen zu können, und bald hatte er die Knöpfe herausgepult; seine Hände hatten sich im Takt ihres Atems auf ihrer Haut bewegt, wie weh es tat, jetzt daran zu denken; er hatte gezittert, als wäre es plötzlich kalt im Zimmer, und ihr ging es ähnlich, als hätten sie es noch nie zuvor getan, als würde am Ende eine Überraschung auf sie warten. Sie streifte das Kleid ab, trat zur Seite und warf es über die Lehne des Sessel, dann drehte sie sich zu ihm, um ihn anzusehen. Er war bis auf sein wollenes Unterhemd ausgezogen und gerade dabei, seinen Anzug neben ihr Hochzeitskleid zu werfen; sein Anblick ließ sie auflachen, mein Gott, Francis, in dem Ding siehst du aus wie Alf Tupper, und er lachte mit ihr, das tat er immer, lachte bereitwillig über sich selbst; manchmal wünschte sie, daß er entschlossener für seine Würde gekämpft hätte, aber diesmal war es anders, weil das Hemd in einer Nacht wie dieser tatsächlich komisch aussah, man merkte sofort, daß ihn seine Mammy ausstaffiert hatte. Sobald sie die Nylonstrümpfe abgestreift und ihn überredet hatte, ihr Korsett aufzuhakeln, lagen sie auch schon im Bett. Es war die erste Nacht, in der Catherine seinen Nachnamen trug; fast konnte sie vergessen, daß sie die Tochter ihres Vaters war, sie gehörte jetzt niemandem mehr außer sich selbst, und trotzdem mußte sie an die Kamera denken und alles, was damit zusammenhing. Als sie und Francis nach ihrer Hochzeitsreise bei Danny und Agnes wohnten, bis eine Sozialwohnung für sie gefunden war, verblüffte Catherine Schwager und Schwägerin mit einer ungewöhnlichen Bitte. Ob die beiden etwas dagegen hätten, wenn sie hinten im Garten neben dem Schuppen ein Feuer machte, und Danny sagte, von uns aus, wenn's sein muß, aber paß auf, daß du nicht aus Versehen meinen Schuppen abbrennst. Über das aufgestapelte Holz legte sie das für sein geblümtes Kleinmädchenmuster viel zu groß geratene Baulwollkleid; dieses Kleid hatte sie auf der Überfahrt getragen, hatte in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft darin gelebt; jetzt fiel es weich über die spitzigen Zweige, legte sich wie ein Schutzdach über das Korsett, das Francis in ihrer Hochzeitsnacht aufgehakt hatte und das von seinen knöchernen Stangen in Form gehalten wurde wie das Skelett eines Insekts; Michael hatte ihr vor langer Zeit erzählt, daß Fliegen ihre Knochen außen trugen. Daniel und Francis standen an der Hintertür und sahen ihr zu, Daniel sagte etwas, aber sie konnte es nicht verstehen, und die beiden Männer lachten, während sie ein Anzündbrikett auf den Haufen legte und das Stoffdach damit zum Einsturz brachte. Sie strich mit dem Streichholz über die Zündfläche, schützte die flackernde Flamme mit beiden Händen, bückte sich, berührte Brikett, Holz und Stoff mit der Flamme und ließ das Streichholz ins Feuer fallen. Das Hochzeitskleid war längst an den Verleih zurückgegangen, sonst wäre es womöglich auch auf dem Haufen gelandet, doch kam es Catherine völlig logisch vor, daß es überlebte und bald eine andere Frau verwandeln würde. Sie sah zu, wie das Kleid ihrer Überfahrt Feuer fing und langsam verkohlte, sah länger zu, als die Geduld der Brüder reichte, und es war ihr egal, ob die beiden sie für verrückt erklärten, sie sah die schwarze Rauchsäule in die reglose Luft aufsteigen; sie schaute ihr nach, bis von ihrer Vergangenheit nichts weiter übrig war als schwarzer Schnee und verkohlte Knochen, und genau darauf hatte sie gewartet, glimmende Zeugnisse der letzten Fetzen ihrer Vergangenheit; falls das verrückt war, sollte es ihr recht sein, für sie machte es Sinn, und alle, die sie nicht verstanden, konnten ihr gestohlen bleiben. In dem Moment stand wieder Francis' Atem still. Catherine fuhr im Bett hoch und lauschte angestrengt auf seinen nächsten Atemzug, der immer folgte, so lang es auch dauern mochte. Catherine fiel auf ihr Kissen zurück und fragte sich, ob sie erleichert sein oder sich lieber wünschen sollte, daß sein Atmen ganz aufhörte, damit sie das Medizinschränkchen im Bad niemals würde öffnen müssen.


 

erckenbrecht.de Kochbücher Startseite